06. Januar 2018 Von Beate Rose / Foto: Lars Schwerdtfeger
Justin (8) hat drei Podeste zu einem wackligen Turm gestapelt, steigt drauf und zieht sich auf die oberste Holzfläche einer Kletterwand. Stolz lächelt er von dort oben runter, guckt nach seiner Mutter Romina Wirsing, ob sie seine Akrobatik gesehen hat. Hat sie. An diesem Tag ist sie mit in Justins Schule, der Hans-Zulliger-Schule am Eselsberg. Es ist eine sonderpädagogische Einrichtung in Ulm, an der aktuell 22 Grundschüler mit sozial-emotionalen Förderbedarf lernen, 12 Lehrer unterrichten.
Es heißt „Drachenzimmer”, ein Stoffdrache wohnt dort
An diesem Vormittag ist der Tagesablauf an der Schule durcheinander. Schließlich haben Schüler, Lehrer, Vertreter der Stadt gefeiert, dass es ein neues Ausruhzimmer gibt. Es heißt „Drachenzimmer”, ein Stoffdrache wohnt dort, für dessen Taufe Schulleiter Werner Pfleghar Feuer spuckte. Das Spektakel war gewaltig. Dabei ist der Raum mit 17 Quadratmeter eher klein, aber „für uns eine große Sache”, sagt Pfleghar.
Alles darin ist neu, der grüne Teppich, die hölzernen Elemente zum Klettern, Durchkriechen, Besetzen. Dafür eingesetzt haben sich Pfleghar und Manuela Cesare von der Abteilung Bildung und Sport. Eine Stiftung hat die Kosten von 6000 Euro übernommen. Im Drachenzimmer können sich Kinder austoben und „auch zur Ruhe kommen. Mitunter sind unsere Kinder derart in psychischen Ausnahmesituationen, sie kratzen, beißen, toben. Dann ist es gut, dass sie allein in so einen Raum können”, erklärt Pfleghar.
Das klingt, mit Verlaub, nach Gummizellen – „und das ist es gerade nicht” (Pfleghar). Denn: Die Türe sei nie abgeschlossen, ein Lehrer stehe davor. Das neue Zimmer sei da, um „runterzufahren”, sagt ein Kind in der Feierstunde.
Viele Zulliger-Schüler haben Probleme mit der Reizverarbeitung. Es sind Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen, mit Lernschwächen, hochsensible Kinder. Es sind Kinder von Eltern, die nie einen Beruf erlernt haben, genauso Kinder, deren Eltern Professoren sind. Die Kinder können auch konzentriert lernen, „aber dann triggert sie etwas und sie flippen aus”, schildert Pfleghar. Manche würden regelrecht durchdrehen, dann auch Lehrer beschimpfen, anspucken. Umstände, mit denen Grundschulen überfordert sind, auch wenn Sonderpädagogen stundenweise zu jenen Kindern kommen, die dort als inklusive Schüler lernen.
Denn ihr Sohn und auch auch sie haben dort wieder Vertrauen zur Institution Schule aufgebaut
Ramona Wirsing ist einfach froh, dass es die Zulliger-Schule gibt. Denn ihr Sohn und auch auch sie haben dort wieder Vertrauen zur Institution Schule aufgebaut. Justin bekam schon bei der Schuluntersuchung im Kindergarten die Diagnose „sozial-emotionaler Förderbedarf” gestellt. Die Mutter meldete ihn dennoch an einer Grundschule in Ulm an. „Wir probieren es”, war ihre Einstellung.
Justin startete als Erstklässler an der Regel-Grundschule. Doch er wurde geärgert, ließ sich provozieren, störte, konnte sich nicht aufs Lernen konzentrieren. Der Bub wurde von Mitschülern getriezt, irgendwann zerschnitt er einem Kind den Pulli. „Er war bei den Kindern und Eltern unten durch. Aber nicht bei den Lehrern”, sagt Stefanie Elbe-Fröschle. Sie ist Lehrerin an der Zulliger-Schule und war für Justin zuständig, um ihn mit 2,3 Stunden als inklusives Kind an seiner Grundschule zu betreuen.
An der Zulliger-Schule ist alles besser geworden. Dort wird in kleinen Klassen mit acht Kindern gelernt, es gibt öfters Oasen. Unter den 22 Schülern ist ein Mädchen. „Mädchen verarbeiten emotionalen Stress anders”, sagt Pfleghar. Sie fallen selten durch aggressives Verhalten auf, flüchten dafür eher in eine Magersucht oder selbstverletzendes Verhalten.
Ein Kind muss Spaß an der Schule haben. Wenn es nur Sorgen hat, kann es nichts lernen
Vormittags lernen die Zulliger-Schüler nach dem Bildungsplan der Grundschule. „Nachmittags können unsere Kinder kein Mathe oder Deutsch mehr machen”, sagt Pfleghar. Dann ist die Zeit für die AGs. Für Pfleghar steht an oberster Stelle: „Ein Kind muss Spaß an der Schule haben. Wenn es nur Sorgen hat, kann es nichts lernen.” Auf Justin trifft das zu. Seine Mutter sagt: „Er ist traurig, wenn Ferien sind.”
Kein Anschluss nach Klasse 4
Die Hans-Zulliger-Schule führt zwar eine Warteliste, doch die sei überschaubar, sagt Schulleiter Werner Pfleghar. Denn: Grundschulen sind mittlerweile angehalten, mit schwierigen Kindern bis zu einem gewissen Grad selbst zurecht zu kommen. Manche der Zulliger Schüler würden nach geraumer Zeit an einer Regelschule wieder lernen, manche verbringen ihre gesamte Grundschulzeit dort. Nicht richtig geklärt sei die Frage, wie es für die Kinder nach Klasse 4 weitergeht. Manche von ihnen bräuchten so eine Förderschule auch in weiterführenden Klassen, die es aber so in Ulm nicht gibt.